Wie alle tragischen Geschichten beginnt auch diese mit einer harmlosen Frage. Nämlich: „Sag mal, was zockst du da eigentlich?“ Gerichtet an meinen Neffen, der ganz vertieft mit seiner Switch auf dem Sofa der Ferienwohnung saß. Die kleine Schwester war schon im Bett, und so erklärte mir mein Neffe geduldig, was er da spielt. Ich sah zu, wie er in Windeseile mit simplem Klötzchen schubsen einen Zoo baute, einen entlaufenen Papagei wieder einfing und Tiere vermehrte. Ehrlich, wie niedlich ist das bitte? Zwei Schafe füttern, dann fliegen Herzchen durch die Luft, und PLÖPP, da steht ein kleines, treu blickendes Babyschaf. Hach!
Ich stellte interessiert Fragen, ließ mir alles zeigen und erklären, kommentierte ganz beiläufig, dass sein Onkel Cookie „das früher auch mal gespielt hat“. Damit dachte ich, sei das Thema durch. War es nicht. Denn natürlich erzählte mir mein Neffe bei nächster Gelegenheit, dass man sich für ein paar Euro im Monat einen eigenen Server mieten könne – zum gemeinsamen Zocken mit Freunden. Ob der Onkel Cookie denn mit ihm spielen wolle? Nein, das wollte der Onkel Cookie nicht.
Der Einstieg in den Anfang vom Ende.
Nächster Versuch: „Tante Mirtana, willst du dann nicht mit mir spielen?“ Ich bitte Sie, als ob ich dem Kind etwas abschlagen könnte. Ich sagte: „Na gut, ich guck mir das mal an.“ Was soll schon großartig passieren? Schließlich hat das Kind begrenzte Bildschirmzeit – abends mal ’ne Stunde mit ihm ein bisschen Klötzchen schubsen, das klingt doch harmlos.
Also reaktivierten wir Cookies alten Account, er mietete einen Server – und ich loggte mich ein. Mein erstes Mal Minecraft. Das hielt genau zehn Minuten. Dann wurde ich von Skeletten und Zombies dreimal hintereinander erschlagen. Motivation: im Keller. Laune: im freien Fall. Ich war kurz davor, das ganze Projekt „Minecraft mit Kind“ für gescheitert zu erklären. Bis Cookie mir das Leben erleichterte, indem er die Monster einfach ausschaltete. Überlebensmodus auf der Stufe friedlich, endlich kein panisches vor pixeligen Zombies flüchten sobald die Sonne untergeht und dabei in tiefe Erdspalten fallen. Spoiler: ich falle immer noch ständig irgendwo rein. Sehr zum Amüsement des Neffen.
Lasset die Spiele beginnen!
Irgendwie schaffte ich es, meinen Neffen auf den Server einzuladen, und so begannen wir gemeinsam, Minecraft zu spielen. Dieses Spiel mit den bunten Klötzchen und der Grafik, für die sich selbst ein Spiel aus den Neunzigern geschämt hätte. Der Neffe zeigte mir, wie man schnell ein Haus baut, damit einen nachts nicht die Zombies fressen. Entschuldige, Kind, aber Zombies gibbet hier nicht. Deine Tante ist fünfundvierzig, hat Rücken und will keinen Stress mit Zombies, Creepern oder häßlichen Spinnen, die plötzlich ihr Haus bevölkern.
Eigentlich hätte ich es dabei belassen können. Ab und zu einloggen, mit meinem Neffen durch die Welt ziehen, Sachen finden und schiefe Häuschen bauen. Doch dann stand ich da, als die Bildschirmzeit meines Partners in Crime abgelaufen war, und betrachtete das Schuhkartonhaus, das wir auf die Wiese gesetzt hatten. Zweckmäßig? Ja. Aber schön? Eher nicht so, das konnte man bestimmt noch besser machen.
Gestatten: Frau Mirtana, die krasse besessene Tante.
Und ja, das konnte man. Ich baute. Ich riß wieder ab. Ich baute neu. Ich baute um. Ich optimierte, verschönerte und dekorierte. Zwischendurch ging mir immer wieder das Material aus, also rannte ich durch die Gegend, fällte Bäume und grub Steine aus den tiefen Erdspalten, in die ich ständig fiel. Als ich schließlich stolz auf mein Werk blickte – ein dreistöckiges, voll möbliertes Haus mit Geheimversteck, Dachterrasse, Kaminzimmer, Küche und Bad (inklusive Toilette) – zwitscherten draußen die Vögel. Nein, nicht im Spiel. Vor meinem Fenster. Genau. So hab ich auch geguckt. Wo waren bloß die letzten neun Stunden geblieben?
„Krass, Tante, das sieht aus wie bei den YouTube-Profis!“ lobte der Neffe mich bei unserer nächsten Verabredung zum Zocken. Ich wuchs drei Zentimeter ob des Lobes – auch wenn die echten Profis richtig krasse Sachen erschaffen. Wir überlegten, was wir noch alles bauen könnten – in der Stunde, die er Zeit hatte. Zum Bauen braucht es Material. Also lief die Tante ewig durch die endlose Welt, sobald der Neffe ausloggte, fiel in tiefe Erdspalten, verfranzte sich für Stunden in unterirdischen Höhlensystemen, sammelte alles ein, was nicht niet- und nagelfest war und schleppte die Beute nach Hause.
Heute verfüge ich über ein Arsenal an Baumaterial, um das mich so mancher Baumarkt beneiden würde. Mit System in unzähligen Kisten sortiert und ja, ich weiß genau, wo ich was gelagert habe.
Wir erschaffen ein Imperium.
Aus dem einsamen Haus wurden zwei, ich brauche meinen eigenen Wohnraum. Dann bekam mein Haus einen geheimen Kellerraum. Von dem aus kommt man mittels eines liebevoll gestalteten Ganges in eine unterirdische Basis. Mit Glasfront am Steilkliff bis unter die Wasserlinie, wo man vom Bett aus die Fische beobachten kann. Wir bauten einen Yachthafen. Einen Leuchtturm. Einen riesigen Aussichtsturm. Ich lernte, daß man Schafe nicht töten muß, man kann sie einfangen. Und scheren. Die kleinen Bauklötzchen-Schafe zittern dann.
Unser Imperium wächst beständig. Wir haben zwei Pferdeställe, eine ganze Herde an Reittieren, Kühe, Hühner, Schweine – mit eigenem Stall. Ich legte einen Garten mit Teichen an. Baute uns ein gotisch anmutendes Badehäuschen. Zusammen errichteten wir ein Hotel und ein kleines Dorf. Ich errichtete im Wasser ein mehrstöckiges Haus auf Stelzen. Wir haben Gemüsebeete, Angelplätze und Bienen im Garten.
Ich lernte von meinem Neffen, wie man Wölfe zähmt. Jetzt besitze ich drei Hunde mit den Namen Spike, Lord Nelson und Churchill. Der Neffe erklärte mir, wie man eine Hauskatze bekommt. Man füttert sie mit Fisch. Logisch. Um Fisch zu fangen, muß man angeln. Also angelte ich. Stundenlang. Was es mit einem ewigen Brunnen auf sich sich hat, wie man Glasscheiben herstellt und wofür man eine Leine benötigt. Der Neffe brachte mir die Welt der Youtube Tutorials nahe. Wo ich lernte, wie man Möbel, Teiche, Laternen, you name it, baut. Schon cool, wenn man zusammen mit einem Experten zockt und sich Dinge einfach erklären lassen kann.
Ein Universum, das nie schläft.
Absolut faszinierend, wie aus einem so simplen Spiel plötzlich eine ganze Welt wird. Unsere Welt, in der ich mich ab und an verlieren kann. Die bunten Klötzchen, die anfangs wie bloßer Kinderkram wirkten, wurden für mich zur Leinwand, auf der ich kreative Meisterwerke entfalten konnte. Wo alles möglich ist – aber nichts muß. Und genau das unterscheidet Minecraft für mich von all den anderen Spielen, die ich gezockt habe: keine Questen, keine vorgegebene Geschichte, kein Ziel. Nur ich, ein Haufen Klötzchen – und eine Welt, die dem Neffen und mir gehört.
Dieses simple Prinzip, mit Klötzchen schubsen eine eigene Welt zu erschaffen, hat diese seltsame Fähigkeit, mich so sehr in seinen Bann zu ziehen, dass ich die reale Welt vollkommen vergesse – die Welt mit echten Menschen, wirklichen Problemen, Terminen, Mails, Broterwerb, Staubsaugen und Einkaufen. Stattdessen stehe ich mitten in unserem pixeligen Wunderland, fälle Bäume für einen Gartenteich oder plane den Bau eines Schafstalles. Es gibt immer etwas zu tun. Immer. Ich verliere mich in unserer Welt und finde mich plötzlich dabei, wie ich einen romantisch verwilderten Garten erschaffe – während der Kühlschrank im realen Leben mit gähnender Leere aufwartet und die Supermärkte längst geschlossen sind.
Und so fühle ich mich erstaunlich produktiv. Fast so, als hätte ich mein Leben im Griff – zumindest mein virtuelles. Wenn ich dann merke, dass es draußen längst drei Uhr morgens ist, während ich gerade meinen virtuellen Hühnern das Mittagessen serviere, wird mir klar, wie schnell die Zeit verfliegt. Ah, das ist bestimmt dieser ominöse Zustand des „im Flow sein“, von dem immer alle reden – nur, daß meiner ein paar Klötzchen und einen Hühnerstall umfasst.
Bin mal eben Klötzchen schubsen.
Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Der Neffe hat gefragt, ob wir heute zusammen auf dem Server Klötzchen schubsen zocken können. Wir wollen eine Burg bauen und ich muß vorher noch das Material sammeln und sichten.
Wir sehen uns. Bei Sonnenaufgang.
P.S.: Das Bild wurde mit KI erstellt, ich kann nicht zeichnen.