Heute zu normalen Zeiten aufgewacht. Immer noch viel zu früh, für meinen Geschmack, aber die Arbeitswelt ist nicht für Nachteulen wie mich gemacht. Immerhin muß ich heute das Haus nicht verlassen, sondern kann am heimischen Schreibtisch arbeiten. Den ich gestern in weiser Voraussicht fix von Chaos befreit habe. Keine Ahnung, aber das muß ein Naturgesetz sein: habe ich meinen Schreibtisch ein paar Tage nicht in seiner eigentlichen Funktion als Arbeitsplatz benutzt, dann findet sich darauf immer ein kurioses Sammelsurium an Krempel, und ich habe keine Ahnung, woher das Zeugs eigentlich kommt. Das materialisiert sich dort mysteriöserweise während meiner Abwesenheit.

Cookie schläft noch, und ich klappe zum Sonnenaufgang den Laptop auf, um dem Broterwerb zu frönen. Das läuft erstaunlich gut und das hätte ich mich stutzig machen sollen. Frei nach dem Motto „Ärger, du kannst mich nicht anschmieren … „
Doch bevor der Scheiß den Ventilator trifft, genießt Cookie den Vorteil, wenn die Frau im Home-Office arbeitet: liebevoll angerichtetes Frühstück. Zurück am Laptop treibt es mir den Blutdruck direkt wieder in ungeahnte Höhen.

Ich bin seit dreiunddreißig Jahren PC-Nutzer und allergisch gegen den Satz „Früher war alles besser.“ Aber mal ehrlich: was denken sich die Menschen, die Software entwickeln und verkaufen, eigentlich? Oder bin ich einfach nur zu blond, um dieses Ding namens „intuitive Bedienung“ zu verstehen? Meine Intuition geht mit diesem Konzept nicht wirklich konform.
Früher, da war alles besser. Da hatten wir Karl Klammer. Wer jetzt auf Anhieb weiß, was es mit diesem Namen auf sich hat, den darf ich herzlich im Club der alten Säcke User begrüßen. Für die jüngeren unter der Leserschaft: Karl Klammer war die nervige, kleine Cartoon-Büroklammer, die sich in alten Microsoft-Programmen aufdrängte, sobald man auch nur vage den Eindruck machte, etwas tun zu wollen. Sie fragte dann freundlich und treuherzig dreinblickend: „Sie scheinen einen Brief schreiben zu wollen. Benötigen Sie Hilfe?“ Ich habe Karl Klammer stets ignoriert und wissend genickt, wenn andere theatralisch das kleine Büroklammer-Gesicht verflucht haben.
Dann verschwand Karl Klammer klammheimlich aus unserem Leben. Und alles war gut: ich mußte nicht mehr ständig den passiv-freundlichen Cartoon wegklicken. Ich durfte meine Software so nutzen, wie ich das für richtig hielt. Ohne hilfreiche Vorschläge. Programme hatten viele Funktionen, in die ich mich einarbeiten mußte. Das mag ich, wenn meine Software das tut, was ich von ihr erwarte, und ich lernen muß, wie man sie richtig bedient. Ich mußte früher lernen, wie Software funktioniert. Heute muß ich lernen, mit ihr zu leben. Daran hab ich Spaß. Vielleicht. Vielleicht auch eher … nicht.
Oder sollte ich sagen: daran hatte ich Spaß? Denn heute kann ich nirgendwo mehr einen Satz tippen, eine Mail verfassen, einen Short-Cut nutzen, ohne daß ein nerviger KI-Assistent aufpoppt und mir auf die Sprünge helfen möchte. „Nein, ich will den vertraulichen Vertrag nicht in der Cloud speichern, verdammte Hacke!“ … „Nein, ich möchte meine Produktivität nicht steigern, und wo klickt man diesen Mist weg, Sakrafixnocheins!?!“ … Ich brauche keine Vorschläge, Tips oder Lernreisen. Kam Karl Klammer noch dezent fragend um die Ecke, schreien mich heutige Assistenten nahezu an „Guck mal hier, wir haben hier was gaaanz tolles für dich, willst du das nicht mal ausprobieren?“ Yadda, yadda, yadda …
Heute lerne ich nicht mehr, wie Software funktioniert – heute lernt die Software mich kennen. Leider merkt sie sich dabei nicht, daß ich längst weiß, was ich tue. Zumindest, bis das nächste Update wieder mal die „Nutzer-Experience intuitiver“ gemacht hat. Sprich: Funktionen und Buttons, die ich vorher blind gefunden habe, so zu verstecken, daß ich eine Menge Zeit damit vergeuden kann, fluchend belehrende Popups wegzuklicken und herauszufinden, wo meine Werkzeuge abgeblieben sind.
Und genau das habe ich heute getan. Nachdem mich eines meiner Programme, die ich täglich nutze, mit einem Update erfreut hat. Alles schön, alles shiny, alles intuitiv. Von wegen Produktivität steigern. Es sei denn, Produktivität wird neuerdings daran gemessen, wie oft man den KI-Assistenten in der Stunde verflucht hat. Ich komme da auf einen sehr guten Schnitt, den muß mir erst mal einer nachmachen. Immerhin, zu meiner Ehrenrettung: ich habe irgendwann die Einstellung gefunden, die mir die alte Benutzeroberfläche zurückbrachte. Ganz alleine, ohne Unterstützung durch den KI-Assistenten. Man soll seine Siege ja feiern, wie sie fallen.

Die To-Do-Liste ist immerhin um einige Punkte geschrumpft, als ich zum Feierabend den Laptop zuklappe. Zur Entspannung schneide ich danach Gemüse klein. Eine ungeheuer befriedigende Tätigkeit, die niemandem weh tut. Außer den Mohrrüben vielleicht. Was ich dank meiner Biokiste gelernt habe: Möhren gibt es tatsächlich in verschiedenen Farben. Übrigens habe ich schon vor Jahren die Erfahrung gemacht, keinen Eintopf mit der Sorte „Purple Haze“ zu kochen. Der wird nämlich knallig lila. Aber auch ohne Purple Haze hacke ich meinen, durch übergriffige Software verursachten, Frust klein. In Form von bunten Karotten. Ich sagte es bereits: Gemüse schneiden empfinde ich als ungeheuer entspannend. Muß ja niemand wissen, was mir dabei so durch den Kopf geht, gell?

Immerhin, mir läuft ein Kartoffelherz über den Weg. Was mir hingegen nach dem Eintopfgenuß noch nicht über den Weg gelaufen ist, das ist der richtige Rucksack, um mein Arbeitsgerät zwischen Büro und Mupfelheim zu transportieren. Ich möchte etwas Nachhaltiges haben, das wirklich lange hält. Wasserfest und robust, aus nachhaltigen Materialien gefertigt und möglichst aus Deutschland oder der EU. Bisher habe ich zwei Kandidaten gefunden, die das Rennen machen könnten: ein Modell aus alten Airbags und Sicherheitsgurten. Das andere Modell aus ausrangierten Feuerwehrschläuchen. Und nun kann ich mich nicht entscheiden. Wie immer. Weswegen ich weiter suche. Nein, ich kaufe nicht beide. Schließlich habe ich nur einen Rücken.
Ich suche dann mal weiter. Und beende den Tag mit einer Erkenntnis, die ich vor zwanzig Jahren nie für möglich gehalten hätte: daß der Tag mal kommen könnte, an dem ich mir tatsächlich Karl Klammer zurückwünsche.

