Herbstlich gefärbte Gingko-Blätter auf dem Boden, bedeckt mit feinen Wassertropfen, Schriftzug "Wieder ein Jahr älter".

Wieder ein Jahr älter. Und das ist gut so.

Heute ist der Tag, an dem ich (wieder) das richtige Alter habe. Zumindest bis zum letzten Tag des Jahres. Denn auf meiner Hauptplatine, die man gemeinhin auch als Gehirn bezeichnet, sind ein paar skurrile Speicherorte kaputt. Ich weiß nämlich nie auf Anhieb, wie alt ich eigentlich bin. Fragt man mich nach meinem Alter, passiert in meinem Kopf folgendes: Aktuelles Jahr minus Geburtsjahr ergibt gleich Alter. So bin ich dann für gut zehn Monate immer ein Jahr älter, ich eile sozusagen der korrekten Anzahl Lebensjahre voraus, bis wir uns am 21. Oktober wieder zusammenfinden.

Heute vor sechsundvierzig Jahren betrat ich die Bühne meines Lebens. Alter Falter, ist das lange her! Irgendwo im Kopf bin ich immer noch Mitte zwanzig, leider hält das gefühlte geistige Alter nicht die Anzeichen des allmählichen körperlichen Verfalls auf. So trage ich zum Lesen mittlerweile eine Brille, die Haare sind friedhofsblond, pardon grau, und das Bindehautgewebe ist auch nicht mehr, was es mal war. Morgens knacken diverse Gelenke, eine Nacht mit zu wenig Schlaf macht mich für Tage unleidlich, und die ersten Anzeichen der Perimenopause klopfen zaghaft an die Türe.

Älter werden ist nix für Weicheier. Und es läßt sich weder verleugnen noch ignorieren. Hadere ich damit? Mitnichten. Ich finde es spannend, was jede Lebensdekade so mit sich bringt.

Mit Mitte zwanzig hielt ich Menschen über vierzig für alt und dachte mir sehr, sehr oft: „Oh mein Gott, so wie die will ich nie werden!“ Und nun bin ich selbst weit über vierzig und stelle mir ab und an die Frage, was mein zwanzigjähriges Ich wohl von mir halten würde. Und ob ich ihm glaubhaft versichern könnte, daß ich mich alles andere als alt fühle. Oder so benehme.

Ja, die Knie knacken gelegentlich. Das Aufstehen morgens gibt nicht mehr das Bild von „Ich springe geschmeidig aus dem Bett“, sondern gleicht mehr einem Hochfahren der Systeme in mehreren Schüben. Das Gesicht, das mir im Spiegel entgegen schaut, entknittert sich nicht mehr vollständig so, wie es das mit zwanzig noch tat. Ohne Brille muß ich Bücher am lang ausgestreckten Arm halten, um den Text lesen zu können. Gelernt: der Fachmensch nennt das Presbyopie. Das gehört dazu, wenn die Lebensjahre sich summieren.

Früher dachte ich, daß dieses Älterwerden eine ganz schön bedrohliche Angelegenheit sein muß. Heute weiß ich: Ich habe mich geirrt, es ist das Gegenteil von bedrohlich. Ich habe mit sechsundvierzig noch genug Energie, um Dinge zu erleben und gleichzeitig genug Erfahrung, um sie wirklich genießen zu können. Mit zwanzig wäre ich nie allein mit dem Motorrad durch die Bundesrepublik gegondelt. Gut, vielleicht doch. Aber hätte mein zwanzigjähriges Ich diese Momente des Alleinunterwegsseins ebenso genossen wie mein Mitte-Vierzig-Ich? Vermutlich nicht, es wäre wohl eher wie eine gesengte Sau um die Kurven geheizt und hätte ihren Schutzengeln kollektiv den Angstschweiß auf die Stirn getrieben …

Ich muß niemandem mehr etwas beweisen – weder mir, noch dem Rest der Welt. Kann unsinnige Trends am Rande liegen lassen. Habe gelernt, „Nö, lass mal“ zu sagen. Darf gelegentlich die Leichtigkeit der Jugend vermissen. Allerdings ist Älterwerden kein langsamer Abstieg von Jugendglanz zu grauem Alltag. Es ist mehr so ein Upgrade. Auf eine Version von mir, die mitten im Leben steht, die mehr Freiheiten hat, die selbst entscheidet, sich mittlerweile gut kennt und die weiß, wann es Zeit ist, loszulassen.

Älterwerden schenkt mir Gelassenheit – so manches, was mich mit Mitte zwanzig zur Weißglut gebracht hätte, entlockt mir heute lediglich ein müdes Grinsen. Die Jahre haben mir beigebracht, daß ich nicht alles kontrollieren kann. Und auch gar nicht muß. Weder muß ich mich mit anderen messen noch vergleichen. Ich kann einfach hinschauen und entscheiden, was mir Freude macht.

Älterwerden ist spannend. Ich habe immer noch die Fähigkeit, Neues zu lernen, mich zu begeistern, zurückzublicken und aus der Vergangenheit Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Meine Welt steckt immer noch voller Möglichkeiten, und eines hat sich nicht groß verändert: Ich weiß heute genau so wenig wie mit zwanzig, was die nächsten Jahre bringen werden. Mir fehlt einfach der ultimative Weitblick für einen stringenten Lebensplan. Manchmal beneide ich Menschen, die ihre Checkliste „Ausbildung, Job finden, Heiraten, Haus bauen, Kinder kriegen“ konsequent durchleveln. Ich hingegen bin schon froh, wenn ich weiß, wann ich nächstes Jahr wo Urlaub machen werde.

Ich habe immer nach dem Motto gelebt: „Schauen wir mal, was passiert“ und ich denke nicht, daß sich diese Einstellung noch großartig ändern wird. Mit dem Alter kam die Einsicht, daß es absolut in Ordnung ist, mein Leben so zu gestalten, wie ich das tue. Ich bin zufrieden, so wie mein zwanzigjähriges Ich sich das nie hätte vorstellen können.

Käme eine gute Fee und böte mir an, wieder zwanzig sein zu können, ich würde dankend ablehnen. Ich möchte nicht mehr sein, wer ich mit zwanzig war. Unsicher, ständig pleite, nie irgendwo zu Hause, oft einsam und noch öfter verwirrt. Heute besitze ich nicht nur einen scharfen, sondern ebenfalls geschulten Verstand. Mein Humor ist mit den Jahren feiner geworden, und ich weiß, wann ich mich selbst nicht ernst nehmen sollte, sondern mit Selbstironie auf mich blicken kann. Ich habe die Freiheit errungen, mich selbst zu definieren, statt dem Glauben hinterherzulaufen, bestimmte Rollen erfüllen zu müssen. Mit dem Alter kommt die Selbstsicherheit, einfach Dinge zu tun, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, was andere wohl davon halten könnten. Je älter ich werde, desto egaler wird mir, was andere denken.

Dieses Älterwerden fühlt sich trotz aller Falten, Zipperlein und nachlassender Sehkraft kraftvoll an. Es ist kein Verfall, es ist ein Abenteuer. Ich bin neugierig darauf, was es noch so bringt – auch wenn ich so manches Mal denke: „Mein lieber Herr Gesangsverein, ich bin schon sechsundvierzig! Wann zum Geier ist das denn passiert?“

Und ich freue mich darauf, irgendwann die verrückte Olle mit den bunten Docs und lila gefärbten Haaren zu sein, deren Gesicht von Lachfalten durchzogen ist und die mit schwarzem Humor das Altersheim aufmischt. In diesem Sinne:

Happy Birthday to me!

Ein Gedanke zu „Wieder ein Jahr älter. Und das ist gut so.“

  1. Alles Liebe zum Geburtstag.
    Das mit den lila Haaren finde ich witzig🤭
    Ich bin noch ein paar Monate 63, hab seit 2017 nur noch friedhofsblonde Haare und letzten Freitag bei Haare schneiden lassen beschlossen, dass da mal wieder ein schönes dunkles Bordeauxrot drauf muss.
    Nun feier noch schön.
    Vielleicht sieht man sich ja mal irgendwann beim Motorrad fahren.

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