braune Schreibmaschine auf Schreibtisch, links hochkant der Schriftzug "Dear Diary", unten rechts der Schriftzug "#2: Winter is coming. Bücher auch."

Dear Diary #3: Ich habe fertig.

Das ist tatsächlich graue Nebelsuppe vor meiner Windschutzscheibe. Und nicht etwa eine so dreckige Frontscheibe, daß sie automatisch für die Weichzeichnung der Welt sorgt. Innerhalb von einer Woche bekommen selbst wir unser Beschleunigungsmonster nicht so eingesaut. Die Bäume der Allee strecken ihre schon fast kahlen Äste gen Himmel, lustlos hüpfen ein paar Krähen über den braunen Acker, all die bunten Blätter liegen als Matsch auf dem Asphalt und ich möchte am liebsten wenden. Nach Hause fahren, mir eine Kanne Tee kochen und mit meinem Buch auf der Couch verschlumpfen …

Es ist doch noch Oktober, noch nicht November. Seufz. Nützt ja nix, der Broterwerb ruft. Zähne zusammen beißen und durch. Jetzt beginnt wieder die Zeit der freundlichen Mütter, die mich bei der Arbeit stören. Wenn ich was mit Eltern hätte zu tun haben wollen, ich wäre Lehrerin geworden. Oder sonst irgendwas, wo man auf Eltern trifft. Ich bin Sekretärin. Aus Gründen. Was diverse Mütter nicht davon abhält, trotzdem meine Arbeit zu unterbrechen …

Diese treuen Heldinnen, die tapfer den Telefonhörer in die Hand nehmen, um den Weg für ihre Söhne in die große, weite Welt der IT zu ebnen. Die Praktikumssaison ist offiziell eingeläutet durch das unüberhörbare „Hallo, ich rufe für meinen Sohn an, wegen einem Schülerpraktikum. Er interessiert sich für IT.“ Ja natürlich, er „interessiert sich“ für IT. Wie könnte das auch anders sein?

Er interessiert sich für IT. Welch wundervolle Formulierung, fast schon einem Mantra gleich. Es ist wieder die Zeit, in der die Mütter zum Callcenter avancieren und ihre Söhne für ein Schülerpraktikum anpreisen wie der Marktschreier, der vor Feierabend noch seine letzten Rest Ware an den Mann bringen will. Mütter, die schwärmerisch von der Computeraffinität ihres Nachwuchses berichten während besagte Lendenfrucht vermutlich in der Ecke sitzt und sich mit geballter Konzentration dem Zocken widmet … Wenn der junge IT-Enthusiast sich tatsächlich so brennend interessieren würde, dann nähme er den Hörer selber in die Hand. Oder ist schnödes Telefonieren zu altmodisch für den Filius?

Kann nicht mehr lange dauern, dann habe ich die diesjährigen Jahrgänge an Müttern, die Schülerpraktika für ihren Nachwuchs mit mir aushandeln möchten, durchgespielt. Und wenn ich nicht telefoniere, dann arbeite ich stumpf meine Aufgabenliste ab. Eigentlich wäre es heute schön ruhig, die Hälfte meiner Kollegen sitzt im Home Office. Immerhin das haben wir gelernt: wer sich krank aber arbeitsfähig fühlt, der kommt nicht ins Büro.

Dafür tauchen vormittags vermehrt Paketboten auf. Und der Elektriker. Zum Lampen austauschen. Früher hat man mal eine Glühbirne gewechselt wenn die Lampe nicht mehr das tat, wofür man sie an die Decke gebummelt hat, nämlich Licht von sich geben. Heute tauscht man die ganze Lampe aus. Kein Witz. Die Tageslichtlampen beziehungsweise LED-Panel, die wir vor ein paar Jahren angebracht haben, kann man nicht mit neuem Leuchtmittel bestücken. Die tauscht man am Stück. Nachhaltig geht jetzt auch anders. Immerhin freut sich der Fachmann, daß ich mir nicht nur gemerkt habe, daß er gerne Kaffee trinkt, sondern auch weiß, ob mit oder ohne Milch und Zucker.

Ja, ich kann mir merken, wie jeder, dem ich mal einen Kaffee gemacht habe, seinen Kaffee trinkt. Für so einen Blödsinn habe ich ein phänomenales Gedächtnis. Aber fragen Sie mich bitte nicht, wo ich meinen Schlüssel gelassen habe – der spezielle Speicherplatz meines Hirns ist kaputt.

Mittags ist es immer noch grau draußen und ich werde gebeten, doch bitte ein Auto aus der Werkstatt abzuholen. Das wäre jetzt fertig. Da die Werkstatt nur zwei Kilometer entfernt ist, fasse ich den Beschluss, zu Fuß dorthin zu marschieren. Frische Luft kann nicht schaden und der Weg führt schön durch den Park. Die Vorfreude, durch herbstlich raschelndes Laub zu stapfen, hat die Rechnung allerdings ohne die ersten Vorboten des Novembers gemacht. Spoiler: nasses Laub raschelt nicht. Es ist nur scheiße rutschig. Erstaunlicherweise komme ich an der Werkstatt an, ohne mich aufs Gesicht zu legen. Auch wenn es das ein oder andere Mal recht knapp zu meinen Gunsten ausgegangen ist.

Ich sammle den reparierten Wagen ein, der mir nicht gehört. Weil unser Beschleunigungsmonster nicht nur ein ziemlich altes Gefährt mit Schaltung ist, sondern es sich dabei auch um einen Verbrenner handelt, bin ich es nicht gewohnt, daß so etwas modernes wie ein E-Auto beim Fahren keine Motorgeräusche von sich gibt. Will heißen, ich bin mit dem E-Karren viel zu schnell unterwegs weil ich kein Gespür für Geschwindigkeit oder Beschleunigung habe und die Tempoanzeige nicht da ist, wo ich das gewohnt bin. Den mobilen Blitzer-Anhänger sehe ich nur so aus dem Augenwinkel und ich hoffe mal, daß war keiner von der Sorte, die in beide Richtungen blitzen können. Sonst wird es teuer.

Um den Tag rund zu machen, stelle ich wieder einmal fest, daß ich anscheinend nicht in der Lage bin, simple Sachverhalte zu erklären. Oder zumindest so zu erläutern, daß mein Gegenüber versteht, was ich sagen möchte. Vielleicht sollte ich einfach nur noch meine Buntstifte auspacken und Bilder malen. Ich bin zwar auch nicht wirklich des Zeichnens mächtig, aber schlimmer als mein Wortsalat kann das nicht sein. Am Ende des Arbeitstages packe ich meinen Laptop ein, morgen ist Home Office. Gut so, muß ich der Welt da draußen mich nicht antun und mir die Welt nicht.

Jetzt suche ich mir mein Buch, mache mir einen Tee und verschlumpfe auf der Couch. Ich habe fertig. Mit dem Mittwoch. Und dem Oktober. Und der Welt da draußen. Morgen ist auch noch ein Tag.

So long, dear Diary.

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