Zum Jahreswechsel von 2015 auf 2016 war ich vormittags noch kurz beim Discounter um die Ecke, weil ich irgendeine Kleinigkeit vergessen hatte. Und während ich auf der Suche nach der vergessenen Kleinigkeit durch die Gänge lief, zündeten irgendwelche Vollidioten auf dem Parkplatz außerordentlich laute Böller. Und noch während der erste Explosionsknall verhallte, warf sich ein Mensch ein paar Meter vor mir auf den Boden, zitterte am ganzen Körper und hielt sich schützend die Hände über den Kopf. Im ersten Moment fand ich diese Reaktion außerordentlich irritierend. Denn ich reagiere auf diese lauten und unerwarteten Explosionen mit Erschrecken, gefolgt von Wut und lautstarkem Fluchen, in denen nicht jugendfreie Sprache extensiv zum Einsatz kommt und ich dem Verursacher Dinge wünsche, deren Ausführung hochgradig strafbar wäre.
Es hat einen Moment gedauert, bis ich den Grund für dieses, für mich irritierende Verhalten, erkannte: der Mensch, der sich dort auf den Boden warf, verband mit dem Knall nicht wie ich nur ein paar Arschkrampen mit Feuerzeug. Sondern vermutlich mit gefährlichen Idioten mit Waffen und Bomben, die ihm in seiner Heimat nach dem Leben trachteten. Und vor denen dieser Mensch in ein Land flüchtete, das ihm Sicherheit bot.
Ähnliches erzählte mir vor ein paar Jahren eine Bekannte, die in einem Heim für demenzkranke Senioren arbeitete. Für die sei Silvester jedes Jahr ein Alptraum. Denn demenzkranke Menschen wissen häufig nicht mehr, welchen Wochentag es hat, geschweige denn, welches Jahr es ist. Haben aber noch detaillierte Erinnerungen an ihre Kindheit und es ist nicht selten, daß überwunden geglaubte oder tief vergrabene Traumata im Spätstadium einer Demenz wieder ans Tageslicht kommen. Menschen, die ihre Kindheit in Schutzkellern verbracht haben während es Bomben auf das Ruhrgebiet regnete? Sicher, die erinnern sich bei Böllerlärm an funkelnde Silvesterfeuerwerke …
Ich hasse diesen Scheiß. Jedes Jahr empfinde ich den Jahreswechsel schlimmer, was diese unsägliche Böllerei angeht. Der Klarheit halber: ich rede hier nicht von einem gut vorbereiteten, orchestrierten und schön anzusehendem Feuerwerk, an dem Profis Tage und Monate arbeiten. Das ist solides Handwerk und in meinen Augen Kunst. Sondern von dem dämlichen Geknalle, was jedes Jahr schon Tage vor Silvester beginnt. Und jedes Jahr fängt es früher an, endet später, wird lauter und heftiger. Das ist etwas, da könnte ich ausrasten.
Nicht zu reden, was dieser Blödsinn jedes Jahr an Kosten für die öffentliche Hand verursacht. Die Straßen müssen gereinigt werden. Überstunden bei der Polizei, die mittlerweile wesentlich mehr Personal aufbieten muß, um die Sicherheit der Allgemeinheit zu gewährleisten. Sachschäden an öffentlichem und privatem Eigentum. Kosten im Gesundheitswesen für Personal, Operationen, Reha-Maßnahmen und langfristige Schäden. Kosten für Rettungsdienste und Feuerwehren, die sich zum Dank dafür, den Scheiß dieser Böller-Idioten aufräumen zu dürfen in Form von Löscharbeiten und medizinischer Notfallhilfe, mit Feuerwerkskörpern bewerfen lassen müssen. Böller auf Feuerwehrleute und Polizisten? Knallt dat bei denen unterm Pony? Sach ma, wat is eigentlich kaputt mit dieser Gesellschaft?
Aber, aber, wer wird denn da gleich so böse werden? Das ist doch Trahaadition! Ach ja? Ist es das? Tradition ist es in unseren Breitengraden bereits seit den alten Germanen, mittels Lärm die bösen Geister zu verscheuchen. Unter Lärm versteht man in diesem Falle Trommeln, Rasseln, auf Topfdeckel schlagen, Trompeten und seit der Christianisierung auch das Läuten von Kirchenglocken. Und nicht die fünf Minuten feuernde Böller-Batterie, deren Explosionen ich durch den Fußboden spüren kann, von denen die Gläser in meinen Schränken das Tanzen anfangen und die mich zur Frage bringen, ob da die Flugabwehr auf der Straße Stellung bezogen hat um zu verhindern, daß der russische Diktator morgen zum Frühstück vor der Türe steht. Arschkrampen auf dem Egotrip, die andere zu Tode erschrecken, vertreiben keine bösen Geister, die sind höchstens von allen guten Geistern verlassen.
Um es sehr vulgär auszudrücken: Scheiß auf eine Tradition, die jedes Jahr hunderte Verletzte zur Folge hat. Von denen sechzig Prozent unverschuldet verletzt werden. Sei es, weil ihnen ein Vollhorst einen Böller ins Gesicht geworfen hat, sie vor Schreck vom Stuhl gefallen sind, ein Knalltrauma erlitten haben, von ihrem vollkommen verängstigten Haustier gebissen wurden oder auf welche Art auch immer durch diesen Mist zu Schaden gekommen sind. Scheiß auf eine Tradition, die jedes Jahr horrende Kosten für die öffentliche Hand verursacht. Zur Erinnerung: die öffentliche Hand ist niemand anderes als der Steuerzahler. Kosten für Reinigung, Abfallbeseitigung, Gesundheitsversorgung, Einsatz von Ordnungskräften und Rettungsdiensten, Sachschäden an öffentlichem Eigentum … Setze nach Belieben fort.
Und man komme mir bitte nicht mit dem Argument, daß der Staat am Verkauf von Feuerwerkskörpern und Böllern doch auch verdiene. Mehrwertsteuer und so? Bei 200 Millionen Euro, die der Deutsche so für die Knallerei ausgibt und in die Luft jagt, macht das bei 19% MwSt ein Plus von 38 Millionen Euro in der Staatskasse. Ich würde da gerne mal sehen, wie man damit die Kosten deckt … Alleine das Loch, was sich in der Sozialversicherung ergibt wenn sich so ein Böllerdepp die Hand zerfetzt. Da biste mit um die 20.000 – 50.000 Euro pro OP mit dabei. Kann jetzt jeder mal selber rechnen, was alleine 100 zerfetzte Patschpfoten die Allgemeinheit so gekostet haben … Sagen wir mal so, dafür kann man eine Menge Schultoiletten sanieren. Am Ende kostet es den Staat mehr Geld als er damit einnimmt.
Ich würde ein Verkaufsverbot nicht nur begrüßen, ich würde das feiern. Und nicht nur, weil ich mich aufgrund plötzlicher Detonationen schon so heftig verjagt habe, daß ich mir heißes Wasser über die Figur geschüttet, über etwas gestolpert oder gefallen bin, etwas halb abgerissen oder meine Teetasse fallen gelassen habe. Jedes Jahr auf ein Neues die akustische Generalprobe für die Geräuschkulisse des nächsten Weltkrieges da draußen zu inszenieren hat nichts mehr mit der vielbeschworenen Freiheit zu tun. Wer Freiheit will, der gehe bitte auch verantwortlich damit um. Egoistische Deppen, die den einfachen Grundsatz „Meine Freiheit endet da, wo deine beginnt“ nicht kapiert haben oder kapieren wollen, für die braucht es Verbote.
Warum nicht einfach das Geld in ein schönes, professionelles Feuerwerk investieren? In der Stadt, zentral organisiert. Wo man sich Silvester treffen kann mit Freunden, Gläschen Sekt zum Anstoßen und dann guckt man glitzernde Lichter am Himmel. So eine Art Bürger-Feuerwerk, für das jeder, der möchte, ein paar Euro spenden kann. Oder man organisiert eine Lichtshow mit Laser oder Drohnen zu Musik. Meinetwegen dürfen sie gerne auch mit Rasseln und Trommeln und Trompeten durch die Straßen ziehen. Alternativen zu hirnlosem, tagelangem Böller-Gewerfe, die dazu noch hübsch anzusehen sind und keine Verletzten zur Folge haben, gibt es genug. Traditionen wandeln sich und es wird höchste Zeit, diese Tradition zu modernisieren.
Damit die Bilanz der Einsatzkräfte an Neujahr einfach mal lautet: keine Vorkommnisse.
So long, dear Diary.