„Ihre Tochter ist ziemlich intelligent. Allerdings ist sie leider auch sehr faul.“ Ein Satz, den meine Eltern auf einem Elternsprechtag in der Grundschule von meiner Lehrerin zu hören bekamen. Im Laufe meiner Schulzeit fiel das intelligent schnell unter den Tisch, übrig blieb die Faulheit. Ich, Jahrgang ’79 und mitten in den 80ern eingeschult, ging anfangs ganz gerne zur Schule und mir fiel die Grundschule leicht. In meiner Erinnerung habe ich selten Hausaufgaben gemacht oder sie waren so schnell erledigt, daß die Erledigung es nicht geschafft hat, sich irgendwie in meinem Gedächtnis zu verankern.
Mir flog der Stoff zu und das führte schon in der Grundschule zu etwas, was ich bis heute nicht richtig beherrsche: Lernen. Natürlich habe ich im Laufe meines Lebens etwas gelernt, eine ganze Menge sogar. Ich habe nur nie das Lernen an sich gelernt. Während der ersten vier Jahre ging das super gut. Ich hörte zu, ich verstand auf Anhieb, ich konnte es wiedergeben. Das hat gereicht, um mit Bestnoten eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Wo ich mich einige Jahre ebenfalls noch sehr gut durch pfuschen konnte. Als es irgendwann nicht mehr reichte, nur schnell zu begreifen – als der Stoff komplexer wurde, das Leben strukturierter, der Anspruch höher –, hatte ich nichts in der Hand. Kein Lernsystem, kein Plan, keine Strategie. Nur dieses unscharfe Gefühl: Du solltest das doch können. Und Lehrer, die mir vermittelten, ich sei einfach faul. Oder dumm. Und die mir ins Gesicht sagten, sie würden einen Besen fressen, wenn ich tatsächlich das Abitur schaffte …
Denn was man mir nie gezeigt hat: wie ich dran bleibe, wenn es nicht sofort „Klick“ im Kopf macht. Wie ich mir systematisch ein Thema erarbeiten kann. Wie ich mich nicht einfach nur so durch pfusche, sondern wirklich arbeite. Blöd für mich, daß Schule in den 80ern und 90ern Leistung daran maß, wie gut man den im Frontalunterricht präsentierten Stoff auswendig lernen und in einer Leistungsabfrage wieder zurück aufs Papier kotzen konnte. Ich bin bis heute nicht in der Lage, etwas stumpf auswendig zu lernen und das trotz meines ausnehmend guten Gedächtnisses. Dazu kamen noch Lehrer, die entweder gelangweilt und verbohrt waren. Die mit mir nicht klar kamen, gerade wenn ich Fragen stellte, auf die sie keine Antwort im Repertoire hatten.
Unvergessen die Religionslehrerin, die mich mit ihrem Beharren darauf, Recht zu haben und ich wüßte doch gar nicht, wovon ich spräche, so wütend gemacht hatte, daß ich in zwei Nächten die komplette Bibel las (gut, das ellenlange „und der zeugte den, der wiederum ihn zeugte, der mit ihr die zeugte, die dann …“ etc. pp. habe ich mir geklemmt), mir passende Stellen für meine Argumentation rausschrieb und ihr in der nächsten Stunde um die Ohren drosch. Sagen wir mal so: ich hatte die Auseinandersetzung gewonnen, beliebter wurde ich damit bei der Dame nicht. Hatte danach allerdings meine Ruhe und nutzte den Religionsunterricht, um unter der Bank Bücher zu lesen, die mich mehr interessierten. Bis ich den Krempel endlich abwählen durfte.
Bei vielen Lehrern saß ich im Unterricht und habe mich gefragt, warum ich was tun soll wenn der Mensch da vorne ganz offenbar so gar keinen Bock auf seinen Job hat. Oder schlicht nicht in der Lage ist, sein Fach vernünftig zu erklären und zu vermitteln. Auch das ist nicht sonderlich hilfreich. Bis zur zehnten Klasse kam ich damit durch. Und dann? Hatte ich so viele Fünfen auf dem Zeugnis, ich hätte die Versetzung so oder so nicht geschafft. Selbst wenn ich mittlerweile nicht selbst fest davon überzeugt gewesen wäre, ich sei dumm.
Denn genau das ist es, was mir jahrelang von allen Seiten vermittelt wurde: dumm zu sein. Nicht über die nötige Disziplin zu verfügen. Ich war halt faul. Überfordert vom Stoff. Für die meisten Lehrer war ich unbequem oder sie verzweifelten daran, mir Dinge beizubringen, die für die anderen Schüler total einfach waren. Das ist heute noch so. Ich kann komplizierte Excel-Formeln mit unzähligen Bedingungen erstellen ohne mit der Wimper zu zucken. Kriege es im Gegenzug nicht ohne Fluchen hin, etwas simples wie die Berechnung der Mehrwertsteuer als Formel darzustellen. Und wenn ich beständig an den vermutlich simpelsten Dingen scheitere, dann brauche ich mich an den komplexen Aufgaben gar nicht erst zu versuchen. Weil, ich bin ja schon zu dumm für den simplen Kram. Logisch.
Die Schule war keine gute Zeit. Während meine Mitschüler das Saufen entdeckten und sich gegenseitig überboten, wer in kürzester Zeit am meisten trinken konnte bevor man sich die Seele aus dem Leib kotzt, verbrachte ich meine Abende mit Büchern. Oder meinem PC. Mit dreizehn bekam ich von meinem Vater einen 386er, der saß als Computertechniker schließlich an der Quelle. Ich verbrachte mehr Zeit damit, ständig meinen PC neu aufzusetzen weil ich wieder etwas kaputt probiert hatte, mich durch den Bestand unserer Bücherei zu lesen und mit dem Hund der Nachbarin stundenlang durch die Botanik zu latschen als mit meinem Mitschülern. Ich hatte zwei, drei Freundinnen und das wars. Beliebt war ich nie, hatte allerdings den Ruf, sich mit mir besser nicht anzulegen. Ich weiß bis heute nicht, wo der eigentlich herkam. Mein Bestreben war immer, möglichst unter dem Radar zu fliegen und nicht in die Aufmerksamkeit der Bullies zu geraten.
Es gab allerdings auch Lichtblicke: nachdem ich eine Klasse zurück gestuft wurde, geriet ich an zwei, drei Lehrer, die ihren Job nicht nur als Gelderwerb, sondern als Berufung begriffen. Die mit ihrer Begeisterung für ihr Fach ein Feuer der Neugier in mir entzündet haben. Oder die mich einfach herausforderten. Unter anderem war ich wegen Englisch sitzen geblieben. Ich kann bis heute noch keine Grammatik, spreche die Sprache aber auf sehr hohem Niveau. Innerhalb eines Jahres schoß ich von einer Fünf Minus auf eine Zwei plus – und das, obwohl ich mit meiner damaligen Englischlehrerin wirklich erbitterte Diskussionen zu jedem Thema führte. Weil die immer anderer Meinung war als ich, wie der besprochene Text zu interpretieren sei. Später sagte sie mir, daß sie da wirklich Spaß dran gehabt hätte, endlich mal eine Schülerin zu haben, die widersprach und eigene Gedanken hatte statt nur den vom Lehrplan vorgegebenen Interpretationsansatz zu reproduzieren.
Mein Geschichtslehrer, der mich verwundert fragte, wie ich die fünfzehn Punkte in der Klausur über die punischen Kriege zustande gebracht hätte. Mich hatte das Thema null interessiert und das hat er gemerkt. Nun, als es auf die Klausur zuging und ich kapierte „Fuck, ich hab null Ahnung, worum es eigentlich geht“, da bin ich in unsere Stadtbibliothek und lieh mir sechs, sieben Bücher zu dem Thema aus. Las die innerhalb weniger Nächte, machte mir zehn eng beschriebene Seiten Notizen und ging dann in die Klausur. Um den Stift nach Austeilen der Klausurfragen anzusetzen und drei Schulstunden am Stück konzentriert durch zu schreiben. Ich brachte Aspekte und Fakten ein, die wir nie besprochen hatten – woher hätte ich den genauen Stoff wissen sollen, ich hatte die vergangenen Wochen mit geistiger Abwesenheit im Unterricht geglänzt. Danach bekam ich von meinem Geschichtslehrer immer gute Bücher empfohlen oder ausgeliehen, um mein Wissen zu vertiefen.
Die Schule hat mich nicht mit dem nötigen Rüstzeug für mein weiteres Leben ausgestattet. Ich wußte immer noch nicht, wie man systematisch lernt und so sah meine Abi-Vorbereitung dann auch aus. Bis heute halte ich das für ein Wunder, daß ich tatsächlich ein Abiturzeugnis mein eigen nenne. Genauso wenig wußte ich, was ich eigentlich kann, wo meine Stärken liegen und wie ich meine berufliche Zukunft gestalten soll. Was sollte da schon groß kommen, ich war immer noch überzeugt davon, daß ich eben dumm bin.
Ich bewarb mich bei einer Berufsfachschule um Fremdsprachenkorrespondentin zu werden. Und langweilte mich dort zu Tode. Für Steno fehlte mir das Verständnis – wozu soll ich mühselig in irgendwelchen geheimnisvollen Zeichen was mitschreiben, das ich später nicht mehr lesen kann? Ich konnte damals schon in atemberaubender Geschwindigkeit mit zehn Fingern schreiben. Volkswirtschaft fand ich so lange spannend bis ich mich mit dem Lehrer in die Wolle bekam, danach war das Fach für mich tot. Englisch sprach ich besser als die Lehrerin. Und Buchhaltung … Hör mir auf mit Buchhaltung. Dabei war der Lehrer gar nicht so übel, im Gegenteil. Aber Buchhaltung, es gibt nix langweiligeres. Und was mich langweilt, damit beschäftigte ich mich nicht … Dumm halt, daß man da Klausuren schreiben mußte, die prüfungsrelevant waren.
Ein paar Monate vor Abschluß saß ich dann in einer Klausur und konnte mit den Aufgaben nichts anfangen. Wie auch, wenn man weder zuhört, noch lernt? Nach Rückgabe der Klausur zitierte mich der Lehrer in die Sprechstunde und fragte mich, was denn in der Klausur mit mir los gewesen wäre. Ich murmelte was von Aufregung und Blackout und bekam die Chance, in einer Woche die Klausur zu wiederholen. Tja, und so kloppte ich mir innerhalb von einer Woche auf mich alleine gestellt den Stoff von anderthalb Schuljahren in den Kopf. Und das funktionierte. So gut, daß ich für die nachgeschriebene Klausur 14 Punkte bekam.
Alles Beispiele dafür, daß ich nicht dumm oder faul bin. Im Gegenteil. Mein Gehirn funktioniert nur einfach anders und ich brauche zwei Dinge, um gut zu sein: Herausforderung und Begeisterung. Menschen, die für ihr Thema brennen und mich damit anstecken können, faszinieren mich bis heute. Ich denke in Systemen, kann Wissen aus verschiedensten Bereichen miteinander verknüpfen, hinterfrage ständig um den eigenen Horizont zu erweitern, habe keine Angst Neues zu probieren und besitze ein gutes Gespür für Details. Dafür scheitere ich oft an simplen Aufgabenstellungen und werfe viel zu früh die Flinte ins Korn, weil ich nie gelernt habe, mich durchzubeißen … Denn wenn es wirklich anstrengend wird, kommt immer etwas Neues daher und reißt mein Interesse an sich.
Am Ende kann ich eine Menge, es hat bei mir nur nie dazu gereicht, in einem Bereich zur Spezialistin zu werden. Ich bin weder faul noch dumm, mir fehlt einfach das Rüstwerkzeug um ein Thema bis zum Ende durchzuziehen. Allerdings glaube ich bis heute daran, daß ich dumm sei. Dieser Glaubenssatz hat sich so tief in mein Selbstverständnis gegraben, den werde ich nicht mehr los. Ja, mittlerweile kann ich das kognitiv erfassen, daß das nicht der Fall ist und ich mit der Art und Weise, wie mein Gehirn funktioniert, alles andere als dumm bin. Trotzdem sitze ich fast jedes Mal mit Panik in den Augen vor neuen Aufgaben und denke mir „Fuck, ich kann das doch nicht, ich bin da viel zu dämlich zu!“
Und am Ende? Hab ich die Aufgabe natürlich gelöst. Spricht man mich dann darauf an, dann passiert etwas, was ich ebenfalls in der Schule gelernt habe und das sich später im Berufsleben verfestigt hat: ich werte die eigene Leistung ab. Weil, wenn das schon jemand so Dummes auf die Kette bekommt wie ich, dann muß das doch jeder können, kann also nix Besonderes sein. Oder?
Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, hätte ich Schule als einen Ort erlebt, in dem junge Menschen ihr eigenes Potential entfalten können, das selbständige Denken und Analysieren lernen und darauf vorbereitet werden, nicht nur zu funktionieren und mit zu machen, sondern lernt, wer man ist und was man kann. Wo man seine Talente, Fähigkeiten und Stärken ausbauen kann, um im 21. Jahrhundert zu bestehen. Wenn ich meinen Kollegen zu höre, dann hat sich seit meinem Abi in der Schule nicht viel verändert. Statt Tafel und Kreide gibt es jetzt Smartboards, PowerPoint statt Overhead Projektor. Doch immer noch ist Schule ein Ort, an dem Gleichschritt und Funktionieren gelehrt und so jungen Menschen der Spaß am Lernen ausgetrieben wird. Es ist immer noch kein Ort, an dem Spaß am eigenen Denken vermittelt wird sondern eine Prüfung der Anpassungsfähigkeit.
Zum Glück habe ich keine Kinder, die ich durch dieses veraltete System bringen muß. Ich wüßte nicht, wie ich verhindern könnte, daß sie am Ende ebenso wie ich glauben, daß sie strohdumm seien. Oder daran verzweifeln, nicht ins enge Raster zu passen. Denen die Freude am Lernen ausgetrieben wird. Die nicht auf ein Leben im 21. Jahrhundert vorbereitet werden und mühsam begreifen müssen, daß nicht sie verkehrt sind. Sondern das System.
Denn heute weiß ich: Mein Denken funktioniert. Nur eben anders. Es war und ist kein geradliniger Weg. Es ist eher ein Umweg mit schöner Aussicht. Ich komme oft später an. Aber ich hab unterwegs Dinge gesehen, die andere nie bemerken. Ich verbinde Wissen aus Ecken, die selten zusammen gedacht werden. Ich finde Lösungen, an die niemand denkt – manchmal auch, weil ich sie selbst nicht ganz erklären kann. Aber sie funktionieren.
Und trotzdem fällt es mir schwer, das anzuerkennen. Weil da tief drin immer noch die Stimme von damals ist. Die sagt: „Du hast das nur irgendwie hingekriegt, das ist Zufall.“ Nicht: „Du hast das gut gemacht.“
Der Schulbetrieb kann nicht und wird nie auf Menschen wie Dich eingehen können, denn ihr seid derart in einer Minderheit, dass es sich schlicht nicht lohnt, einen Teil der Lehrer-Ausbildung dediziert für Euch zu widmen.
Und um zwei Lanzen für die Lehrer zu brechen:
Niemand bringt Ihnen bei, mit jungen Menschen umzugehen, die besser sind als sie selbst. Überhaupt werden angehende Lehrer immer noch VIEL zu spät mit ihrem realen Berufsalltag in Kontakt gebracht.
Für den Bildungsapparat an sich lohnt es auch nicht:
Die Schullaufbahn zielt einzig und allein auf den Zutritt zur zukünftigen akademischen Karriere ab, welche wiederum explizit der schnellen anschließenden Verwendung in der Industrie als Fachkraft zuträgt – hier sind aus der Reihe fallende Sonderformate und womöglich kreative Neudenker erstens nicht gefragt und zweitens in der Herstellung zu teuer.
Das wird sich keinesfalls ändern – absolut keinesfalls.
Nicht, so lange Kultus in D der Länderhoheit unterliegt, und bevor DAS sich ändert, ist die Heliumproduktion unseres Zentralgestirns bereits zum Erliegen gekommen.