Seit einiger Zeit spülen mir der Youtube-Algorithmus und diverse Status-Meldungen diese lustigen Teilebildchen und Videoclips auf die Mattscheibe, die mir nostalgietriefend erklären möchten, was früher alles besser war. Kennt man, diese hochglanzbearbeiteten Rückblenden im Retrolook, in denen Sandkastenspaß, Kassettenspieler, Fahrradstürze und Telefonzellen als Beweise für eine goldene Ära verkauft werden. Als es noch kein Handy, kein Internet gab. Als eben alles noch viel besser und schöner war. Und wo Kindheit noch richtige Kindheit war.
Ich glaube, ich habe im Laufe der Zeit eine Allergie gegen dieses „Früher war alles besser!“ entwickelt. Früher war schlicht und ergreifend anders, sonst nix. Diese Verklärung von Vergangenheit geht mir irgendwie ab. Ich bin ganz zufrieden damit, im Jahr 2025 zu leben. Mit allem, was dazu gehört. Denn früher war nicht wirklich alles besser, ganz im Gegenteil.
Früher, da konnte man in der Stadt, in der ich seit über zwanzig Jahren lebe, im Garten keine weiße Wäsche zum Trocknen aufhängen. Die trocknete nämlich ziemlich schmutzig auf bei dem ganzen Dreck, den die Industrie aus Schornsteinen ohne Filter so in die Luft blies. Bilder aus dem Ruhrpott aus den sechziger, siebziger Jahren neben den Bildern von heute? Nee, in der Hinsicht war früher mit Sicherheit nicht besser. Früher war die Emscher nichts anderes als eine Kloake, heute ist das ein lebendiger renaturierter Fluß. Wen wir wollen, dann können wir auch massiv etwas verändern. Hat die Region heute Probleme? Natürlich, der Niedergang der Montan-Industrie hat hier massive Spuren hinterlassen. Trotzdem isses nicht per se schlechter als in den guten, alten Zeiten von Steinkohle und Stahl.
Früher, da wäre meine Rolle die der treusorgenden Hausfrau gewesen, ganz nach dem Willen des mir Angetrauten. Bis Juli 1958 hätte ich ohne die Erlaubnis meines Mannes weder arbeiten noch ein eigenes Konto eröffnen dürfen. Wäre er so fortschrittlich gewesen, seiner Frau, sprich mir, den Broterwerb zu erlauben, dann hätte ich zwar Geld verdient doch selbstständig darüber verfügen? Nö. Erst mit der Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches fiel die Klausel, daß der Mann über das Einkommen seiner Frau verfügen durfte. Finanzielle Selbstbestimmung? Klar, war früher natürlich besser, Frauen können doch sowieso nicht mit Geld umgehen. Die kaufen davon am Ende nur Schuhe.
Früher, da hätte ich meinem Mann erst ein „schweres Fehlverhalten“ nachweisen müssen wenn ich mich von ihm hätte scheiden lassen wollen. Zum ersten Juli 1977 gab es die Reform des Scheidungsrechts und damit die Einführung des „Zerrüttungsprinzips“, das eine Scheidung unabhängig von Schuld ermöglicht. War früher natürlich besser. Vorausgesetzt, das Ehegesponst war nicht allzu dämlich, sich beim Fremdvögeln auch noch erwischen zu lassen.
Früher, da wäre ich als Lehrerin in Bayern bis 1951 ausgemustert worden, sobald ich vor einem Standesbeamten „Ja, ich will!“ zu einem Mann gesagt hätte. Lehrerinnenzölibat, das fanden die Lederhosenträger so geil, daß sie besonders lange daran festhielten und es als letztes Bundesland abgeschafft haben. Super Instrument, um Frauen aus dem Berufsleben zu drängen damit die Stellen für Männer frei werden. Besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Früher war es halt besser … wenn man als Mann als Lehrer arbeiten wollte, der mußte sich eben nicht zwischen Liebe und Beruf entscheiden.
Früher, da hätte ich als Ehefrau „Nein“ zum Sex sagen können bis mir die Zunge abfault, da gab es so etwas lästiges wie sexuelle Selbstbestimmung und Zustimmung noch nicht. Vergewaltigung in der Ehe gilt erst seit 1997 als Straftat. Natürlich war das früher besser, da konnte die Olle sich halt nicht mit Kopfschmerzen rausreden wenn sie keinen Bock auf ihre ehelichen Pflichten hatte.
Früher war alles besser. Da durfte man noch ohne Sicherheitsgurt fahren und ungebremst durch die Frontscheibe fliegen bei einem Unfall. Da lebte es sich richtig gut bei dickem Smog in der Stadt. Da durfte man noch haufenweise giftige Stoffe auf Äcker versprühen, in Lebensmitteln einsetzen, in Farben verarbeiten, in die Flüsse kippen, Textilien damit färben und die Luft verpesten. Früher starb man noch an Pocken, Kinderlähmung oder Tuberkulose, gegen die es heute wirksame Impfungen und Medikamente gibt. Früher war das Essen vermeintlich gesünder, wenn man denn Blei, DDT und mangelnde Hygiene außen vor läßt. Früher waren Flüsse giftige Kloaken, heute schwimmen wieder Lachse im Rhein. Früher, da hatte man aber noch Respekt vor dem Lehrer, der einen bis Mitte der Siebziger verprügeln durfte. Übrigens, in Bayern, als letztem Bundesland, wurde die Prügelstrafe erst 1983 abgeschafft. Da war wohl einfach ein wenig länger früher alles besser.
Heute darf ich als Frau arbeiten gehen und mein eigenes Geld verwalten, vollkommen unabhängig von einem Trauschein. Ich darf mein Leben gestalten, wie ich das für richtig halte. Kann den Beruf ergreifen, den ich machen möchte. Habe die Möglichkeit, Motorrad zu fahren. Zu lernen, was ich will. Meinen Interessen nachzugehen. Zusammenleben mit wem und lieben wen ich möchte. Ich kann Zukunft gestalten, mich engagieren und einbringen, wo ich möchte. Ich bin nicht abhängig von jemandem, der mich an Haus und Herd fesselt. Den ich nicht um Erlaubnis fragen muß bevor ich eine Arbeitsstelle antrete und der obendrauf noch mein Geld verwaltet.
Ich gebe allerdings zu, daß es wirklich einen Punkt gibt, von dem ich sehr sicher sagen kann, daß das früher tatsächlich besser war: meine Sehkraft. Mittlerweile bin ich schließlich in dem Alter, in dem ich eine Lesebrille benötige. Aber sonst? Kann ich dieser Verklärung der Vergangenheit nichts abgewinnen. Als Frau möchte ich nicht zurück in die Vergangenheit, ich finde die Zukunft viel spannender.
Passiert da gerade sehr viel Scheiß in der Welt? Mit Sicherheit. Auf der anderen Seite passieren eine Menge guter Dinge und in meinen Augen ist es wesentlich konstruktiver, sich darauf zu konzentrieren, was man in Zukunft besser machen könnte statt mit der Nostalgiebrille die vermeintlich goldene Vergangenheit zu betrauern, in der nun wirklich nicht alles golden war, was glänzte. Wir leben heute in einer anderen Welt, die in ihrer Gesamtheit weder besser noch schlechter ist als die Welt der sechziger, siebziger, achtziger Jahre. Sie ist anders, sie hat andere Herausforderungen. Sonst nix.
Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts, doch leben muss man es vorwärts. Sagte Søren Kierkegaard. Recht hat er. In diesem Sinne.
So long, dear Diary.