Tagebuch schreiben

Tagebuch schreiben: “Wer schreibt, der bleibt.”

Hand aufs Herz, wer schreibt heute noch altmodisch mit Stift auf Papier? Außer dem Einkaufszettel, wenn dafür nicht auch schon eine App zum Einsatz kommt. Ich bin ein großer Fan der Chirografie, wie es in der Fachsprache so schön benannt wird. Der bitte was? Na, des manuellen Schreibens, umgangssprachlich schnöde bezeichnet als “mit der Hand” schreiben, da gibt es tatsächlich ein eigenes Fremdwort für. Übrigens eine feinmotorische Meisterleistung, bei der mehr als dreißig Muskeln und siebzehn Gelenke zusammen arbeiten. Nicht zu reden von den zwölf Hirnarealen, die dabei aktiv werden. Zumindest bei den Menschen, die ihr Hirn nur besitzen, damit ihnen die Schädeldecke nicht nach innen fallen kann. Wie ich ausgerechnet auf das altmodische Schreiben mit der Hand komme?

Weil ich das nach wie vor gerne mache. Wie alle Tätigkeiten, die man analog ausführt, entschleunigt das Schreiben mit einem Füller ganz ungemein. Ist dieses “Entschleunigen” eigentlich immer noch in Mode? War doch eine Weile total in, alles was entschleunigt, war super. Nun, egal ob Mode oder nicht, aktuell zeichne ich viel von dem auf, was mir widerfährt oder mir an Gedanken durch den Kopf schießt. Genau, ein regelmäßiges “Liebes Tagebuch”. Nein, Tagebuch schreiben ist nicht nur ein Ding für hormongeplagte Teenies oder berühmte Menschen. Sondern für jeden. Aus guten Gründen.

Tagebuch schreibe ich mit der Hand.

Obwohl ich mit gut fünfhundert Anschlägen die Minute tippen kann, nehme ich für das Tagebuch schreiben lieber den Kolbenfüller statt die Tastatur. Exakt aus dem Grunde weil ich mit Füller nicht so schnell schreiben kann. Das zwingt mich nämlich dazu, langsamer zu denken und was jetzt ziemlich schräg klingen mag, ist genauso gemeint. Natürlich kann ich mit einer Tastatur wesentlich schneller runter schreiben, was mir so durch den Kopf schießt als wenn ich dafür ein manuelles Schreibgerät benutze. Zumindest wenn ich das Niedergeschriebene irgendwann noch mal lesen können möchte.

Geschwindigkeit ist nicht der Sinn der Übung. Sondern was ich damit übe, ist nichts anderes als bewußt zur Kenntnis nehmen, welche Gedanken mir da gerade durchs Hirn rennen. Ein wenig so, als würde man die Filmaufnahme eines Autorennens in Zeitlupe abspielen damit man bestimmte Details besser wahrnehmen kann. Viele Dinge gewinnen erst in der Verlangsamung an Klarheit und flüchtige Gedanken nehmen Gestalt an.

Es macht den Kopf leer.

Das Notizbuch aufzuschlagen und einigermaßen leserlich das zu Papier zu bringen, was mich den Tag über gefreut oder geärgert hat, was mir gelungen oder auch nicht gelungen ist, welche Gedanken mich beschäftigen zu dem, was mir geschieht, was ich tue, vorhabe oder was die Welt da draußen so treibt, hat den ganz wunderbaren Effekt, daß all das Zeugs meinen Kopf verlässt. Es muß dort nicht mehr Karussel fahren und wenn ich es noch einmal brauche, dann weiß ich wo ich es finden kann.

Papier ist geduldig und diese Eigenschaft mache ich mir mit dem Tagebuch schreiben zu Nutze. Dem Notizbuch kann ich zum Beispiel das drölfzigste Mal vorjammern, daß mich das aktuelle Wetter nervt. Es wird nicht mit den Augen rollen, das Thema wechseln, mich stehen lassen oder ungebeten Ratschläge für wetterfeste Kleidung von sich geben. Natürlich ändert mein handschriftliches Gejammer das Wetter nicht, das wäre eine ziemlich unglaubliche Superkraft, wenn ich mittels Tagebuch schreiben das Wetter ändern könnte. Manchmal muß Gejammer aber einfach sein. Auf Papier nervt es keinen, ich bekomme es aus dem System und kann mich in zwanzig Jahren darüber amüsieren, daß Regen und Wind im Januar 2023 offenbar meine größten Probleme gewesen sein werden.

Tagebuch schreiben ist Nachdenken mit Stift.

Ich stelle mir beim Schreiben oft Fragen. Und die schreibe ich auf, um mir selber Antworten zu geben oder, ganz simpel, schriftlich über die Problematik nachzudenken. Ganze Gedankengänge zu einer Fragestellung mit einem langsamen Schreibgerät zu Papier zu bringen schärft den Fokus auf das, was ich eigentlich sagen, ausdrücken, festhalten möchte. Manchmal bringt es auch nur ans Tageslicht, welche Thematik sich eigentlich hinter meiner Frage verbirgt.

Es dient mir dazu, Beobachtungen, Erfahrungen, Gefühle, Ideen, Pläne und ihre Fortschritte festzuhalten, um an diese irgendwann anzuknüpfen oder sie zu reflektieren. Ich kann mich von Geschehnissen distanzieren beim Schreiben als auch später beim Nachlesen und sie aus einer anderen Perspektive betrachten. Tagebuch führen ist eine wunderbare Methode der Selbstreflexion. Es zeichnet über einen längeren Zeitraum Lern- und Entwicklungsprozesse auf und setzt Erinnerungsspuren.

Der Prozess des Aufschreibens hat zur Folge, daß sich das Gedankenkarussel in meinem Kopf zu drehen aufhört und ich in Ruhe über eine bestimmte Erfahrung oder Fragestellung, ein Gefühl oder eine Idee nachdenken kann. Ich kann Thesen in den Raum werfen, sie auf ihren Kern überprüfen oder schlicht einfach wieder verwerfen. Mit dem Kolbenfüller in der Hand denke ich zielgerichteter über das nach, was mir gerade wichtig ist.

Als Tagebuchschreiberin schlafe ich besser.

Klingt komisch, ist aber so. Ich neige zum Grübeln, sobald ich das Licht gelöscht und mir die Decke bis zu den Ohren gezogen habe. All der Krempel, den ich tagsüber erfolgreich in den hintersten Ecken meines Kopfes verbannt habe, hat die unschöne Angewohnheit, zur Schlafenszeit angekrabbelt zu kommen und um Aufmerksamkeit zu betteln. Sehr lautstark, nicht zu überhören und meist auch nicht ruhig zu bekommen. Deswegen habe ich mir angewöhnt, vor dem Schlafen eine Runde Tagebuch schreiben einzulegen.

Das ist Zeit für mich, in denen ich meinen Kopf leer räume, schriftlich nachdenke und den Krempel aus den hintersten Ecken ans Licht zerre. Damit er seine fünf Minuten Aufmerksamkeit bekommt und nicht lauthals danach schreit wenn ich mich aufmachen will um ins Reich der Träume zu gelangen. Erstaunlich, aber das funktioniert. Ziemlich gut sogar.

Das Tagebuch als kreative Spielwiese.

Häufig sitze ich vor dem PC, habe mein virtuelles Blatt Papier vor der Nase und dann passiert? Richtig, nix. Worte wollen sich nicht zu Sätzen fügen, die wiederum Absätze bilden und so am Ende einen vernünftigen Text ergeben. Man sollte meinen, daß jemand, der mit einer so hohen Geschwindigkeit Worte in die Tastatur hämmern kann wie ich, keine Probleme mit dem Herunter schreiben von Texten haben sollte.

Tja, falsch gemeint. Sehr häufig sind die Texte, die ich so am Stück in die Tastatur hämmere, nicht so unbedingt gut formuliert. Rein am PC entstandene Beiträge zum Beispiel sind mindestens fünf Mal, wenn nicht sogar wesentlich häufiger, überarbeitet. Ich neige zum einen dazu, ewig lange und verschachtelte Sätze zu bauen. Und zum anderen ständig die gleichen Worte zu benutzen – er sagte, sie sagte, alle sagten, ich sage. Dabei gibt es so viele schöne Synonyme zu dem Verb sagen … Mit dem übermäßigen Gebrauch von Füllworten fange ich besser gar nicht erst an.

Wenn ich Tagebuch schreibe, dann habe ich den Füller in der Hand und formuliere bewußter. Ich gebe zu, die Sätze können auch dort gefühlt zwei Seiten lang werden … Aber ich habe beim Durchlesen sehr viel seltener das Gefühl, ständig dem gleichen Verb über den Weg zu laufen, mich springen nicht in jedem zweiten Satz überflüssige Füllworte an und normalerweise gehen Sätze nicht über den ganzen Absatz. Regelmäßiges Tagebuch schreiben trainiert tatsächlich meine eingerosteten Fähigkeiten, Worte zu Sätzen zu schmieden, die sich zu Absätzen fügen, welche am Ende wiederum einen Text ergeben.

Ganz unabhängig vom Trainingseffekt, dort kann ich mich ohne Rücksicht auf Verluste mit Worten austoben. Natürlich könnte ich das auch hier, in meinem Blog. In meinem Tagebuch hingegen vergraule ich niemanden wenn ich komische Worte erfinde, schrägen Satzbau versuche oder mitten im Satz plötzlich die Richtung wechsle. Mit dem Blog verhält es sich wie mit dem Eiskunstlaufen: hier landet die Kür, nicht das Training.

TL;DR: Ich möchte das Tagebuch schreiben nicht missen.

Das Führen eines Tagebuches ist mir mittlerweile zum lieb gewonnen Ritual geworden, das mir Zeit für mich schenkt. Dort kann ich mich austoben und herum probieren. Es hilft mir dabei, mich weiter zu entwickeln und im Auge zu behalten, woran ich arbeiten möchte. Regelmäßig aufzuzeichnen, was mich beschäftigt, läßt mich besser einschlafen, es räumt meinen Kopf, meine Gedanken und Gefühle auf und sorgt für Klarheit.

Am Ende des Tages macht es einfach Spaß. Und, schreibt von den Anwesenden noch wer Tagebuch, so ganz altmodisch mit Stift auf Papier?

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