Stress, das Grundübel unserer hektischen Zeit, in der vieles, was wir eben noch als sicher erachtet haben, plötzlich über die Lebensspanne einer Eintagsfliege verfügt. Stress, das war in meiner Vorstellung immer dieses Ding von “viel zu viel zu tun haben in viel zu wenig Zeit”. Hand hoch, wer bei dieser knackigen Zusammenfassung ebenfalls eine Person vor Augen hat, die von Meeting zu Meeting hetzt, sechzig Stunden und mehr die Woche arbeitet, Wochenende nur vom Hörensagen kennt, sich mal eben zwischen zwei Terminen irgendwas Ungesundes in den Rachen schiebt, ständig versucht, fünf Dinge gleichzeitig zu tun und sich damit total überlastet … Also exakt das Gegenteil von mir.
Ich und Stress? Also bitte. Die Vorstellung, ich könne gestresst sein, erschien mir die letzten acht Jahre, die ich bereits bei meinem jetzigen Arbeitgeber bin, total abwegig. Klar, lege ich die oben genannte Definition an mich selber an, dann bin ich das Gegenteil von gestresst. Doch Stress hat noch mehr Gesichter als nur “viel zu tun, zu wenig Zeit!”, die teilweise recht subtil daher kommen. Das Wort kommt schließlich vom lateinischen stringere = anspannen und Grund zur Anspannung gab es die letzten drei Jahre mehr als genug. Es ist da nicht mein Job, der mich unter so großen Druck setzt, daß ich der andauernden Anspannung nicht mehr entkomme. Viel mehr Anteil hatte Corona, Todesfälle, Lockdowns, Krieg, Inflation, Ungewißheiten, Energiekrise, mehr Krise, überall Krise und Menschen im Allgemeinen. All das hat mich in Summe, und vor allem unbemerkt, eine sehr große Menge Kraft gekostet.
Zeit für eine Auszeit!
Das irgendwas nicht stimmt und in krumme Bahnen läuft ist mir letzten Sommer klar geworden. Und auch, daß ich dagegen etwas tun sollte. Nur war für mich lange nicht ersichtlich, was da eigentlich schief läuft. Bewußt war mir lediglich, daß ich eine Auszeit brauchte. Zeit für mich, um in mich hinein zu hören, neue Impulse zu bekommen, mich selber (wieder mal) auf den Prüfstand zu stellen, Kraft zu tanken und den Resetknopf zu drücken. Also fing ich an zu suchen … Gefunden habe ich einige Meditationskurse und Yoga-Wochenenden, deren Beschreibung mir allerdings zu … einigen wir uns auf “spirituell” … daher kam. So wie eine unglaubliche Menge von Angeboten selbsternannter Life-Coaches, die mit esoterischem Geschwurbel auf Kosten von Menschen Kohle machen.
Das ist mal so gar nicht meins. Wenn ich diese Sonnenscheinchen schon faseln höre “Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, du musst nur positiv denken, du kannst alles und du mußt es nur genug wollen, dann kannst du es in deinem Leben manifestieren, Tschaka Tschaka, Yes, Yes, Yes … Bla Blub”, bekomme ich Ausschlag. Und ein Jucken in der Faust. Ich bin weder spirituell noch esoterisch, der ganze Bumms fällt für mich in die gleiche Kategorie wie Homöopathie. Kann man glauben, den Mumpitz, muß man aber nicht. Ich bin nun mal Team Wissenschaft. Jetzt ist es meistens eine gute Sache zu wissen, was man nicht will. Es ist leider nur bedingt hilfreich, etwas zu finden, das man dann will.
Der Zufall kommt zur Hilfe.
Und dann kam die Fotofreundin Frau H. ins Spiel. Die erzählte mir begeistert von ihrem Bildungsurlaub, fünf Tage im Kloster Steinfeld inklusive Seminar zum Thema “MBSR” – Mindfulness-Based Stress-Reduction, zu deutsch “Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion”. Aha. Achtsamkeit, auch so eine Sau, die aktuell durch alle Trends geprügelt wird? Tatsächlich hat Frau H. mit Esoterik nix am Hut. Genauso wenig wie MBSR in diesen Bereich fällt. Ganz im Gegenteil, das von Jon Kabat-Zinn entwickelte Programm gibt es seit den späten Siebzigern. Nicht nur das, mittlerweile ist es ziemlich gut erforscht und wissenschaftlich belegt. Kein Wunder, Herr Kabat-Zinn ist immerhin emeritierter Professer an der University of Massachusetts Medical School. Da isse wieder, meine Freundin, die Wissenschaft.
So schaute ich mir das Angebot für den fünftägigen Bildungsurlaub an und beschloß spontan “Joa, das klingt gut, das mach ich”. Ebenso spontan war die Anmeldung ausgefüllt und abgeschickt. Sollte es wider Erwarten doch esoterisch werden oder aus welchen Gründen auch immer doof, dann fahre ich halt wieder nach Hause. Ich bekam die Bestätigung und den Seminarplan für die Woche, beantragte beim Arbeitgeber Bildungsurlaub und dann hieß es warten auf April.
Frau Mirtana fährt ins Kloster.
Sonntags packte ich etwas beleidigt meinen Koffer, meine Yogamatte aus Schurwolle sowie meine Meditationsdecke in den Kofferraum des Beschleunigungsmonsters. Eigentlich hatte ich mit dem Motorrad fahren wollen, doch die Kombination aus neu aufgezogenen Reifen, gerade mal drei Grad und Regen macht mir einen Strich durch die Rechnung. Pffft, dann eben mit vier Rädern auf ins Kloster Steinfeld in der Eifel. Auf dem Weg dahin bleibe ich interessanterweise von größeren Staus verschont, obwohl Ferien sind, und habe genug Zeit, um mir Sorgen zu machen, was da jetzt auf mich zukommen mag.
“Was ist, wenn die Leute doof sind? Was ist, wenn die Leute mich doof finden? Was ist, wenn das Programm doch doof ist? Was ist, wenn das Ganze eine total doofe Idee war? Was ist wenn da nur total überarbeitete Manager sind?” Mir kreisen eine Menge “Was ist …” Fragen durch den Kopf, auf die ich natürlich keine Antwort bekomme. Als ich ankomme bin ich der festen Überzeugung, daß diese Unternehmung meine größte Schnapsidee der letzten zehn Jahre sein wird. Ich quetsche den Corolla in die letzte Lücke, die ich auf dem überfüllten Parkplatz finde und checke ein. Mein Zimmer liegt im alten Gästehaus, hat gefühlt zwei Meter dicke Wände und eine musikalische Heizung. Immerhin ein eigenes Bad, das ist wichtig.
Hallo erstmal.
Und dann treffen wir uns vor dem Abendessen zum Kennenlernen, ein gutes Dutzend Menschen. Oder auch “Die Gruppe”, wie wir sie im Laufe der Woche in unseren Gesprächen nennen werden. In einem großen Stuhlkreis. In der Mitte steht ein Blumenstrauß, der Teppich ist flauschig dunkelrot und die Holzbalken geben dem Raum eine warme Atmosphäre. Wir dürfen uns einen Platz suchen, unseren gewählten Stuhl beschriften und stiefeln dann zum ersten gemeinsamen Abendessen.
Gesättigt geht es zurück zum roten Teppich, wir stellen uns vor und erzählen, warum wir da sind. Wenn wir mögen. Gute Frage, warum bin ich eigentlich hier? So genau weiß ich das halt selber nicht. Also hangele ich mich durch die Vorstellung meiner Wenigkeit und bin froh, das Wort an meinen Nebenmann übergeben zu können. Zu meiner großen Erleichterung scheine ich nicht in einer Gruppe abgedrehter Manager gelandet zu sein, sondern in einer großen Bandbreite ganz normaler Leute. Zum Glück.
Nachdem wir nun voneinander wissen, wie wir heißen und warum wir alle in dem großen Raum sitzen, gibt es die erste Theorie-Einheit der Woche. Und ganz allmählich weicht meine Überzeugung, einer totalen Schnapsidee zum Opfer gefallen zu sein. Als ich am Ende der Einheit den Weg in mein Zimmer antrete, sind Skepsis und Zweifel verschwunden. Und haben an ihrer Statt Platz gemacht für Neugier auf das, was mich die nächsten Tage erwartet.
Und darüber erzähle ich beim nächsten Mal ein wenig mehr. Im zweiten Teil von “Einfach nur mal atmen”. Bis dahin wünsche ich Euch schöne Tage ohne Stress.
Klingt jetzt bereits sehr gut, habe auch gleich mal den YT-link querüberflogen, bin indes etwas toleranter was die umfangreichen “Hilfs-“Angebote der Spiritualitätsszene angeht:
Wem das gewählte Programm nicht hilft, hat in aller Regel nur etwas Geld verloren (was nie schlimm sein sollte). Und WEM es geholfen hat, der fühlt sich eben besser. Im Idealfall.
(Auch die Erkenntnis, Geld den falschen Propheten zugeworfen zu haben, ist lehrreich und stärkend.)
Ich bin gespannt auf die folgenden Teile! 🙂
Danke für die Blumen 😉
Ich sehe diese ganze Spiritualitätsszene etwas differenzierter. In vielen Fällen stimmt, was Du sagst: hilft es nicht, ist am Ende nur ein wenig (oder viel, je nach Perspektikve) Geld verloren. Was mich daran so stört und hier nur in einem böse formulierten Absatz durch scheint: Coach ist kein geschützter Begriff, jeder kann sich so nennen. Und das Marketing auf Social Media zielt auf eine persönliche Ebene ab, da wird der Coach zum vermeintlichen Freund. Und jetzt erzählt dir der vermeintliche Freund was vom “Gesetz der Anziehung”, das nix anderes besagt, als das du selber für das verantwortlich bist, was dir passiert … Das halte ich für unverantwortlich, denn der größere Prozentsatz der Menschen, die sich auf die Suche nach Halt begeben und bei diesen Coaches landen, sind nicht die emotional und psychisch gefestigten.
Sehr viele dieser Coaches haben keinerlei Ausbildung, die sie dazu befähigen würde, mit solchen Menschen zu arbeiten. Und viele ihrer Kunden wären bei einer klassischen Therapie besser aufgehoben. Wenn es die denn geben würde und man nicht auf einen Therapie-Platz ewig und drei Tage warten müsste. Ich hab mir auf der Suche etliches an Angeboten im Netz angeschaut/angehört und wenn mir zum Beispiel eine junge Frau, die Marketing studiert hat, in ihrem Podcast allen Ernstes erzählt, auf sein Trauma müsse man nur mit “der richtigen Einstellung” schauen, dann würde es sich von alleine auflösen … Nein. Und derlei ist mir sehr häufig über den Weg gelaufen und ich möchte nicht wissen, was diese vermittelten “Hilfs-Angebote” bei Menschen anrichten können, die tatsächlich traumatisiert sind.